Geschichten erzählen ohne Worte

Port de Bras - Geschichten erzählen ohne Worte

In der Originalproduktion von Dornröschen macht die Bösewichtin Carabosse ihren dramatischen Auftritt während Auroras Geburtstagsfeier. Sie spricht kein Wort. Sie tanzt nicht einmal. Und doch übermittelt sie dem königlichen Hof eine Botschaft:
„Eure Tochter wird zu einer wunderschönen Frau heranwachsen – aber eines Tages wird sie sich an einer vergifteten Spindel stechen und sterben.“
Wie schafft sie das – ganz ohne Worte? Durch klassische Pantomime, eine kraftvolle Tradition im Ballett, in der Gesten zur Sprache werden.
Schau genau hin:
• Sie zeigt auf Aurora.
• Sie senkt die Hand zum Boden, hebt sie dann nach oben – „Sie wird heranwachsen.“
• Sie umrahmt ihr Gesicht mit dem Finger – „Sie wird schön sein.“
• Sie streckt die Handfläche aus, als wolle sie sagen: „Aber warte.“
• Sie imitiert, wie sie sich in den Finger sticht – „Sie wird die Spindel berühren.“
• Und schließlich verschränkt sie die Arme vor der Brust – „Sie wird sterben.“

Diese Abfolge ist nicht einfach nur Bewegung; sie ist Geschichtenerzählen durch den Körper. Im klassischen Handlungsballett sind Gesten und Mimik essenziell, um Emotionen, Handlung und Charaktere ohne Worte auszudrücken.

Doch woher stammen diese ausdrucksstarken Gesten?

Von antiken Statuen zu königlichen Höfen

Die Wurzeln der Ballettpantomime reichen zurück bis zu römischen Statuen, in denen Gesten in der Zeit eingefroren waren. Jahrhunderte später untersuchte der italienische Schriftsteller Andrea De Jorio die Körpersprache der neapolitanischen Bevölkerung und sammelte sie in seinem einflussreichen Buch La Mimica von 1832. Er sah in der Geste eine Brücke zwischen Gefühl und Sprache – eine Philosophie, die das höfische Verhalten und die Bühnensprache des Balletts tiefgreifend beeinflusste.

Während der Renaissance- und Barockzeit verfeinerte der italienische Adel den Tanz, indem er ihn mit Theatertraditionen wie der Commedia dell’Arte verband – einer Maskenform des Spiels. Da die Gesichter der Schauspieler verborgen waren, wurde die Körpersprache zum Hauptträger der Emotionen. Dies inspirierte Choreografen dazu, stilisierte Gesten zu entwickeln, die bis heute im Ballett überlebt haben.

Später, unter der Herrschaft von König Ludwig XIV., blühte das Ballett als formalisierte französische Kunstform auf. Ludwig, selbst ein leidenschaftlicher Tänzer, arbeitete mit Ballettmeistern wie Beauchamps und Feuillet zusammen, um Tanzschritte in schriftliche Notation zu fassen. Diese frühen Anleitungen beinhalteten nicht nur Schrittfolgen, sondern lehrten auch die Kunst des eleganten Benehmens – wie man den Hut zieht, würdevoll abtritt und, vor allem, wie man sich mit Haltung und Anstand bewegt.

Warum die Arme wichtig sind: Anatomie trifft Ausdruck

Während sich frühe Texte stärker auf Beine und Fußarbeit konzentrierten, betonten sie dennoch die logische Verbindung zwischen Körperanatomie und Bewegungsqualität.
• Die Knie sollten sich in Koordination mit den Ellenbogen beugen.
• Ein Demi-Plié spiegelt sich in den Armen mit einem sanften Beugen der Ellenbogen und Handgelenke wider.
• Die Finger bilden ein zartes Oval, weich und rund – als hielte man einen Spiegel oder streiche sanft über ein Kleid.

Warum liegt so viel Augenmerk auf Armen und Händen? Weil sie die beweglichsten und ausdrucksstärksten Körperteile sind. Wenn sie geschult sind, können sie Absicht, Gefühl und Geschichte vermitteln – ganz ohne ein einziges Wort.

Der Gestenwortschatz des klassischen Balletts

Hier nur einige ikonische Pantomimegesten, die bis heute verwendet werden:
Tanzen – die Hände über dem Kopf kreisen lassen
Verrückt werden – Zeigefinger kreisend an den Schläfen
Heirat – auf den Ringfinger der linken Hand zeigen
Liebe – die Arme über dem Herzen kreuzen
Tod – die Handgelenke vor dem Körper kreuzen

Diese Gesten reisten durch ganz Europa – vom französischen Hof nach Russland, Dänemark, Deutschland und darüber hinaus – und befeuerten die romantische Ballettära mit Werken wie La Sylphide und Giselle.

Vaganovas Vermächtnis: Die sechs Port de Bras

Eine der prägendsten Entwicklungen in der Armbewegung kam durch Agrippina Waganowa, die in ihrem Buch Grundlagen des klassischen Balletts die sechs Port de Bras formal definierte.
Ihre Methode vereinte französische Eleganz mit italienischer Athletik und wurde zum Grundstein der Ballettausbildung weltweit. Die sechs Port de Bras sind mehr als ästhetische Posen – sie sind ein ganzheitliches Training für Kontrolle, Koordination und Kunst.

Was ist Port de Bras?

Wörtlich übersetzt als „Tragen der Arme“, bezeichnet Port de Bras die fließende, bewusste Bewegung der Arme – nicht nur statische Positionen, sondern Übergänge, Koordination mit Rumpf, Kopf und Blick.

Ihre Schönheit liegt in:
• Der Harmonie zwischen beiden Armen
• Der weichen Formung der Linien
• Der Plastizität und dem Fluss, die Sprünge, Drehungen und Posen bereichern
• Ihrer Fähigkeit, Emotion und Bedeutung in jeden Schritt zu bringen

Die letzte Geste

Die Arme, Hände und Finger richtig zu halten bedeutet mehr als nur Schönheit – es geht ums Erzählen. Von der antiken Pantomime bis zu Waganowas kodifiziertem Port de Bras gibt uns das Ballett eine Sprache durch Bewegung.

Jede Bewegung wird zur Botschaft.
Jede Geste – ein Satz.
Und jeder Tänzer – ein Geschichtenerzähler.

Quellen
  • Homans, Jennifer. Apollo’s Angels: A History of Ballet. Random House, 2010.
  • Vaganova, Agrippina. Grundlagen des klassischen Tanzes. Übersetzt von Hans Beck und Käthe Albrecht, Henschel Verlag, 2001. Ursprünglich veröffentlicht 1934.

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